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Wer war der echte "kleine Dienstag"?

 

„Gestatten: Hans-Albrecht Löhr, Darsteller des ‚Dienstags’. Ich bin neun Jahre alt, vorläufig noch in der Grundschule. Wir sind geschieden. Den Vater habe ich seit sechs Jahren nicht gesehen. Die Mutter arbeitet auf der Charité als Hilfsärztin, oder so was ähnliches. Mit Mutti bin ich recht zufrieden. Und dass wir geschieden sind damit bin ich ganz und gar einverstanden: ich kann so machen, was ich will! (…) ‚Und vergessen Sie nicht zu schreiben’, ruft mir der kleine Dienstag nach, ‚Wir protestieren gegen die Junggesellensteuer, die man uns von der Gage abzieht. Wir sind keine Junggesellen, wir sind Kinder!“

Der Junge, der hier so keck einer Berliner Zeitung ein Interview gibt, ist einer der Kinderdarsteller, die 1931 das große Los gezogen haben: Bei der ersten Verfilmung von „Emil und die Detektive“ spielt er die Rolle des „kleinen Dienstags“, der im Film mit einem Dackel den Telefondienst übernimmt („Parole Emil!“). Doch im Gegensatz zu den 2.500 Berliner Schulkindern, die sich für die Rollen der „Detektive“ beworben haben, verdankte er seine Besetzung seiner Freundschaft mit dem Autor. Über diesen Jungen schrieb Erich Kästner vierzig Jahre später:

„Da der kleine Hans-Albrecht Löhr ein ungewöhnlich liebenswürdiger und aufgeweckter kleiner Junge war, blieb es nicht aus, dass wir uns, trotz des beträchtlichen Altersunterschiedes, anfreundeten und dass wir einander in den Nazi-Jahren immer wieder einmal sahen. Als er in das wehrpflichtige Alter kam, konnte es nicht ausbleiben, dass er dann sehr bald nach Russland kam und dort ist er – wo, weiß ich nicht – gefallen. Jedenfalls ist dieser Hans-Albrecht für mich eine unverlierbare Erinnerung. Allein an diesem einzigen sinnlosen Verlust kann ich ermessen, was, millionenfach multipliziert, Hitler auf dem Gewissen hat.“

Meine Arbeit an einem Drehbuch über Erich Kästner begann im Jahr 2004. Bei meiner Recherche war ich zunächst auf eine Information gestoßen, die mich nicht mehr losließ: Fast alle kindlichen Darsteller der Verfilmung von „Emil und die Detektive“ hatten den Krieg nicht überlebt. Die Geschichte eines Kinderbuchautors, dessen Leser in einem Weltkrieg gefallen waren, erschien mir ungewöhnlich. Ich forschte weiter und fand heraus, dass Kästner mit einem von ihnen auch während der Nazizeit befreundet blieb: Hans-Albrecht Löhr. Doch wer war dieser „kleine Dienstag“?

Die ungewöhnliche Freundschaft zwischen dem kinderlosen Kinderbuchautor und dem vaterlosen Kind begann 1929. Der siebenjährige Hans-Albrecht Löhr eroberte mit einem begeisterten Leserbrief Kästners Herz:„Sehr geehrter Herr Kästner, Meine Mummi hat mir Ihre Adresse gesagt, weil ich so gerne an Sie schreiben wollte. Meine Schwester und ich haben den Emil gelesen. Es war ein knorkiges Buch. Ich habe mir die meisten Sachen angesehen. Und was ich mir noch nicht angesehen habe, das sehe ich mir noch an. In der Schumannstraße 16 war ich auch. Pony Hütchen habe ich aber leider nicht gesehen. Sonst hätte ich mit ihr gespielt. Am besten gefällt mir wo Gustav gesagt hat: Der da mit der Milone auf dem Dach. Meine Mutter sakt jetzt zu uns immer wen wir uns zanken zankt euch nicht haut euch nicht kratzt euch lieber die Augen aus. Meine Mummi schimpft, weil ich so schlecht und falsch geschrieben habe. Aber ich bin erst sieben Jahre. Ich will Ihnen nochmals sagen, das Buch war sehr schön. Hans-Albrecht Löhr.“

Hans albrecht löhr 1

(c) Privatarchiv  Thomas Finkenstädt

Kästner schrieb darüber an seine Mutter: „Vorgestern kam ein Brief von einem kleinen Jungen. Den lege ich dir heute in einer Maschinenschrift bei. Das Original schicke ich gerade Frau Jacobsohn. Sie will den Brief vielleicht so wie er ist, handschriftlich also, vervielfältigen lassen und damit Reklame machen. Ist er nicht reizend, der kleine Kerl? Ist überall rumgelaufen – Kaiserallee, Trautenaustraße, Nollendorfplatz usw.- und hat die Gegend, in der der „Emil“ spielt, genau angeschaut. Rührend! Das macht Spaß, sowas zu schreiben!"

Kästner nahm zu dem kindlichen Briefeschreiber Kontakt auf. Dessen Brief wurde faksimiliert und für den Werbeprospekt des Buches verwendet.


Hans-Albrecht durfte außerdem 1930 in der Theaterfassung und 1931 bei der Verfilmung des „Emil“ den „kleinen Dienstag“ spielen, was eine große Ehre war, denn die Verfilmung war unter den Schulkindern in aller Munde. Sämtliche Berliner Schulen waren angeschrieben worden, und an drei Sonntagvormittagen wurden jeweils 600 bis 800 Jungen im Ufa-Palast am Zoo auf ihre „tonfilmische Eignung“ geprüft.

Der Film wurde am 2. Dezember 1931 im Ufa-Theater uraufgeführt. „Der Erfolg? Er war riesengroß. Lange hat das Kino am Kurfürstendamm keinen so stürmischen Beifall erlebt.“ Nicht nur in Deutschland wurde der Film ein großer Erfolg, auch in England, Frankreich und Amerika. Die kleinen Darsteller wurden berühmt. Selbst der „kleine Dienstag“ Hans-Albrecht Löhr gab Zeitungsinterviews, wie  das in „Berlin am Morgen“.

Auch Kästner verfasste Zeitungsartikel, die über seine jugendliche Leser und die Dreharbeiten zum „Emil“-Film berichten. In ihnen zitierte er zwei weitere Briefe des kleinen Hans-Albrecht an ihn:

„Sehr geehrter Herr Kästner, Meine Mummi sagt, wenn ich ein anständiges Zeugnis nach Hause bringe, darf ich Sie vielleicht einmal besuchen. Ist es Ihnen recht? Ich möchte Sie doch so gerne einmal sehen. Ich hoffe, dass das Zeugnis gut wird bis auf Singen und Betragen. Ich habe Herrn Piehl gebeten, er möchte uns doch den Emil einmal vorlesen, aber er tat es nicht. Fast alle meine Kameraden haben den Emil. Von meinen Büchern ist der Emil das schönste Buch, was ich bisher gelesen habe. Ich schreibe auch manchmal kleine Geschichten. Wenn ich fertig bin, lege ich es auf Mummis Nachttisch, dann freut sie sich immer. Ich würde mich auch sehr freuen, wenn Sie mir antworten würden, ob ich zu Ihnen kommen darf. Viele Grüße, Ihr Freund Hans-Albrecht Löhr. P.S. Ich habe mit der Schreibmaschine geschrieben, damit Sie sehen, was ich auch kann.“

„Sie haben mir eine große Freude gemacht, nämlich mit Ihrem Brief. Meine Schwester und ich wollen Ihnen auch eine Freude machen mit Fefferkuchen und Schokolade, die bittere ist von meiner Schwester, die Milchschokolade ist von mir. Ich habe neulich Zeitungen verkauft, und für dies Geld schicke ich Ihnen diese Sachen. Sie sind also ganz allein von Ruth und mir. Ruth ist meine Schwester. Ich wünsche Ihnen fröhliche Weihnachten und schicke Ihnen viele Grüße.“

Über die Korrespondenz mit Hans-Albrecht scheint sich eine Freundschaft zu Familie Löhr entwickelt zu haben. Kästner schreibt an seine Mutter: „…Achtens trinke ich bei Hans-Albrecht Löhr (8 Jahre) und bei seiner Schwester Ruth (9 Jahre) Kaffee – er hat mir wegen des „Emil“ mehrfach geschrieben, weißt du – und da muss ich mir ihre Zeichnungen ansehen und solche Dinge.“

Ich hatte 2008 das Glück, Ruth Finkenstädt, geborene Löhr, die 88jährige Schwester von Hans-Albrecht, noch aufzuspüren. Wir verbrachten einen langen Nachmittag bei selbstgebackenen Waffeln und dicken Fotoalben bei ihr zuhause. Ich hatte inzwischen viele kleine Hinweise in Kästners Nachlass im Literaturarchiv in Marbach gefunden, die bisher nirgends veröffentlicht waren, wie beispielsweise diesen: „Gestern war ich bei Löhrs zum Mittagessen. Gab Makkaroni mit Schinken. Und als Nachtisch „errötendes Mädchen“. Komischer Name, was? War nett. Frau Löhr ist seit 4 Jahren geschieden. Der Mann zahlt keinen Pfennig. Erklärt, er habe nichts. Es ist überall besch…“

Was es mit dem „errötenden Mädchen“ auf sich hatte, konnte Ruth Finkenstädt erklären: Es handelte sich um Buttermilchstrudel mit roter Gelatine. Und auch, was ihr kleiner Bruder gemeint hatte, als er im „Berliner Morgen“ davon sprach, die Mutter sei „Hilfsärztin in der Charité“: Tatsächlich sei Lotte Löhr medizinisch-technische Assistentin von Professor Otto Lubarsch in der Pathologie gewesen. Ihre Ehe mit Kurt Löhr, einem Braunschweiger Apotheker, wurde bereits geschieden, als Hans-Albrecht drei Jahre alt war. Lotte Löhr schien in Berliner intellektuellen Kreisen verkehrt zu haben, denn kein Geringerer als Walter Trier, der berühmte Illustrator der Kästner-Bücher, hatte ihr ein Ex-Libris gezeichnet. Und auch ein Brief von ihr an Kurt Tucholsky ist erhalten.

Auch nach dem „Emil“-Film riss der Kontakt zwischen Kästner und Familie Löhr nicht ab. Für Kästner wurden Hans-Albrecht und seine Schwester zu Testlesern für sein neues Kinderbuch „Pünktchen und Anton“. Es hatte seine Verlegerin Edith Jacobsohn nicht recht überzeugt. „Ich hab ihr gesagt, dann solle sie mir das Buch freigeben. Das will sie aber auch nicht. Ich soll es ganz umändern. Ich denke nicht daran. Augenblicklich lesen die Löhrkinder das Manuskript. Ich will mal probieren, wie es denen gefällt. Nichts wie Ärger.“

Hans Albrecht Löhr 2

(c) Privatarchiv  Thomas Finkenstädt

Glücklicherweise für die Nachwelt fiel das Urteil der Löhrkinder positiv aus: „Aber Löhrs haben mir erzählt, dass ihnen das Pünktchenbuch sehr gut gefallen hat. Und so werde ich morgen der Jacobsohn entsprechenden Bescheid geben. Entweder bringt sie das Buch, so wie es ist oder ich gebe es jemandem anderen. Ich ärgere mich nicht länger über die Bagage!“ „Pünktchen und Anton“ erschien und wurde ebenfalls ein Bestseller.

Doch dann kam das „Dritte Reich“, und Kästners Bücher wurden verboten. Kästner war der einzige der verfemten Autoren, der bei der öffentlichen Verbrennung seiner Bücher zusah. Er wurde nicht in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen und dufte folglich nicht mehr veröffentlichen. Seine Bücher kamen auf die „Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“, alle bis auf den „Emil“. Doch auch der kam im Oktober 1935 auf den Index. Verlegerin Edith Jacobsohn und Illustrator Walter Trier emigrierten.

Um Kästner wurde es still. Doch seine Freundschaft mit dem inzwischen elfjährigen Hans-Albrecht blieb bestehen. Die Löhrkinder blieben Kästners Testleser, als das vorläufig letzte seiner Kinderbücher Ende 1933 fertig war: „Hans-Albrecht und Ruth sagten vorhin, das Fliegende Klassenzimmer sei noch schöner als der Emil.“ Er ging mit den Kindern auf den Weihnachtsmarkt oder bekam Besuch von ihnen im Café: „Gestern besuchten mich Löhrs im Leon. Frau Löhr sieht gealtert aus. Hans-Albrecht ist nach wie vor der netteste von den dreien.“

Jedes Jahr bekam Hans-Albrecht von Kästner ein neues Buch zum Geburtstag mit einer persönlichen Widmung, - der zehnjährigen Hans-Albrecht genauso („Wenn du das Buch gelesen hast, musst du mir erklären, wie die Viertakt- und Zweitaktmotoren arbeiten. Allein versteh ich das nicht.“) wie der vierzehnjährige („Hiermit schicke ich dir meine herzlichsten Wünsche zu deinem Geburtstag. Und ein Kinderbuch. Ich glaube, dass dies dein letzter Kinderbuch-Geburtstag ist. Zum nächsten werde ich dir dann ein „erwachsenes“ Buch schenken!“).

Hans-Albrecht war inzwischen Gymnasiast. Seine Liebe zur Schauspielerei hatte er nicht verloren. 1932 spielte er in dem Film „Das Lied der schwarzen Berge“ eine kleine Rolle und im gleichen Jahr in einem Kurzfilm nach Tucholsky „Wie kommen die Löcher in den Käse?“ Mit Fünfzehn spielte er an der Volksbühne, die Rolle des Ejlif in Ibsens "Ein Volksfeind". Und noch 1941 erinnerte sich „Emil“-Regisseur Gerhard Lamprecht an den „kleinen Dienstag“ und holte Hans-Albrecht Löhr noch einmal vor die Kamera, indem er ihn als Banklehrling Waldemar in seinem Ufa-Film „Clarissa“ besetzte. Doch kurz darauf wurde Hans-Albrecht mit neunzehn Jahren ein „Primaner in Uniform“, so wie Kästner zwanzig Jahre zuvor. 

Hans Albrecht Löhr 3

(c) Privatarchiv  Thomas Finkenstädt

Bevor es an die Ostfront ging, korrespondierte Hans-Albrecht aus der Kaserne in Eberswalde noch im Mai 1942 mit Kästners Sekretärin und Mädchen-für-alles Elfriede Mechnig. Sie schien ihm andeutungsweise etwas über Kästners Tätigkeit geschrieben zu haben (vielleicht über den "Münchhausen", den er gerade unter Pseudonym schrieb?). Jedenfalls vermied es Hans-Albrecht in seiner fast konspirativen Antwort, Kästners beim Namen zu nennen: "...Dafür aber lüften Sie aber wenigstens etwas das Geheimnis um unseren Dichter. Da hat also mein Daumendrücken doch etwas Erfolg gehabt. Sicher hat er in der letzten Zeit tüchtig zu tun gehabt. Um den Erfolg ist mir gar nicht bange. Wenn das so ein Erfolg wird wie der "Emil"... das muss dann aber tüchtig gefeiert werden! Nur schade, dass ich so gar nichts genaueres weiß. "Wie ein Regenschirm" würde Pünktchen sagen, "bin ich gespannt." Ob ich nicht dochmal mehr hören kann? Der Dichter hat ja bestimmt keine Zeit, und einen "Leon-Überfall" kann ich ja leider auch nicht mehr machen. Ob Sie mir wohl mal etwas mehr schreiben können? Sicher haben Sie auch gerade jetzt wahnsinnig viel zu tun. Sind Sie jetzt wieder Vor- und Nachmittags beim Dichter? [...] Bestellen Sie "Ihm" einen schönen Gruß!"

Dieser Brief aus dem Nachlass von Elfriede Mechnig war das letzte Lebenszeichen von Hans-Albrecht, das ich finden konnte. Auf meine Anfrage bei der Deutschen Dienststelle (WASt) erhielt ich die Information, dass er ins 1. Kompanie Schützen-Ersatz-Batallion nach Eberswalde eingezogen wurde und von dort an die Ostfront kam. Dort fiel er am 22.8.1942 bei Saplatino in Russland. Heute liegt Hans-Albrecht Löhr neben annähernd dreißigtausend anderen Soldaten im Soldatenfriedhof Korpowo begraben (Block 16, Reihe 23, Grab 1435). Das trostlose Ende eines gerade zwanzigjährigen Lebens, exemplarisch für eine ganze Generation…

Ein Kamerad schrieb nach dem Tod von Hans-Albrecht am 25.09.1942 an die Mutter Lotte Löhr: "Sehr verehrte liebe gnädige Frau, in Folge der vielen Angriffe und Vormärsche ist es mir erst heute möglich, Ihnen meine tiefste Anteilnahme am Heldentod Ihres lieben Sohnes, meinem guten Freund Hans-Albrecht, auszusprechen. [...] Leider ist einen Tag, nachdem mir Duzi Kepler die Nachricht brachte, auch dieser gefallen, deshalb war mir die ersten Tage auch nicht zumute zu schreiben. Hans-Albrecht bekam eine Spähtruppaufgabe am 22. August, die er gut löste, es war schwierig, denn selten ist dort ein Spähtrupp hingekommen. Es war bei Schrenac (?), einem kleinen, von Russen besetzten Ort. Diesen Ort hatte er zu umgehen. Es gelang alles und auf dem Rückweg hatte der verdammte Russe abgeriegelt. Aus allen Rohren schoß er - Hans-Albrecht zog ganz fabelhaft seinen Spähtrupp zurück und er selbst sicherte für seine Kameraden den Rückweg. Als er nun folgte, wurde er durch einen Leberschuss tödlich betroffen. Er hatte einen angenehmen schnellen Tod, vor allem aber hat er seinen Kameraden damit das Leben gerettet, eben durch seine vorbildliche Haltung. Gnädige Frau, es ging so rasch. Er sagte nur noch: "Es ist aus, macht's gut!" Er wurde dann von seinen dankbaren Kameraden zurückgetragen. Am 25. August wurde er an einem schönen Sommertag in Dunajewo bigesetzt, wo er mit anderen Kameraden auf einem schönen Feldfriedhof ruht. Unser Hauptfeldwebel hat auch Aufnahmen gemacht, die er wohl Ihnen bald zukommen lassen wird. Meine liebe gnädige Frau, auch wenn Ihr Schmerz groß ist um unseren Hans-Albrecht, den wir alle so gern hatten, dessen Haltung und Leistung uns immer ein Vorbild war, so seien Sie doch stolz auf ihn, der für sein Vaterland alles einsetzte und seinen Kameraden das Leben rettete..."

Der Brief des Kameraden scheint vor allem die Mutter trösten und den Menschen in der Heimat das Gefühl geben zu wollen, dass dieses Sterben nicht sinnlos sei. Viel Wahres steckt wahrscheinlich nicht darin, denn Hans-Albrechts Schwester Ruth Finkenstädt erinnerte sich in unserem Gespräch, dass "das Jungchen" - kaum in Russland angekommen - einen ganz schnellen und sinnlosen Tod gestorben sei. Einen Spähtrupp hat Hans-Albrecht dabei wohl eher nicht geführt.

Auch Kästner kondolierte Hans-Albrechts Mutter. „Gestern habe ich Frau Löhr einen Brief geschrieben. Wie schwer es ist, so einer armen Mutter zu schreiben!...“ Ihre Verbindung überdauerte den Krieg, obwohl Kästner nicht nach Berlin zurückkehrte, sondern sich in München niederließ.

Als „Emil und die Detektive“ 1947 im Berliner Metropol-Theater wieder aufgeführt wurde, besuchte Kästner die Proben. „Siebzehn Jahre ist es nun her. […] In den Probenpausen spielten wir mit den Jungs auf der Bühne am Schiffbauerdamm Fußball. Es war eine schöne Zeit. Obwohl man spürte, dass sie bald sterben werde... Die schöne Zeit starb. Und auch mancher der Jungen musste sterben – so unser ‚Gustav mit der Hupe’, Hans-Hermann Schaufuß’ Sohn, und der ‚kleine Dienstag’, der liebe, gescheite Hans-Albrecht Löhr. Der Krieg brachte sie um. Hans-Albrechts Mutter war auch diesmal im Theater. Wir gaben uns die Hand. Wir sprachen nur ein paar Worte miteinander. Wir dachten an ihren Sohn und an die, die Schuld sind.“

Die Erinnerung an Hans-Albrecht verband Lotte Löhr mit Kästner bis zu ihrem Tod, „weil Ihr Leben mit dem Leben meiner Kinder eigentlich doch sehr verbunden war, und ich diese alte Verbundenheit und Freundschaft jetzt sehr vermisse.“ In alter Tradition schickte Kästner der inzwischen siebenfachen Großmutter seine neuesten Kinderbücher mit persönlicher Widmung. Und Lotte Löhr rief ihm das ein oder andere kindliche Bonmot von Hans-Albrecht in Erinnerung und auch die Tatsache, dass Hans-Albrecht alle Kästner-Gedichte auswendig gekonnt hatte. Kästner antwortet ihr: „So wird man immer wieder an vergangene Zeiten erinnert, und nicht zuletzt an den ersten kleinen Dienstag, den ich so gern hatte.“

Als 1963 die Kinemathek, dessen Gründungsdirektor Gerhard Lamprecht war, in Berlin eröffnet wurde, schrieb Lotte Löhr an Kästner: „Sie wissen sicher, dass ich kürzlich, bei der Eröffnung der Kinemathek eine Einladung von Herrn Lamprecht bekam, um mir den „richtigen“ Emil anzusehen. Es ging mir sehr sehr nahe, aber es war auch wiederum doch schön, nochmal das Jungchen zu sehen und auch sprechen zu hören. Wie schade, dass Sie nicht dabei sein konnten. Herr Lamprecht erzählte mir, dass alle Jungen, - außer Hans Richter – nicht mehr am Leben sind…“

Nun ist Kästners „unverlierbare Erinnerung“ an Hans-Albrecht Löhr durch unseren Film „Kästner und der kleine Dienstag“ hoffentlich dem Vergessen entrissen.

(c) Privatarchiv Thomas Finkenstädt


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